romy fischer

körper, seele und geist heilend begegnen

Sexualstrafrechtspraxis versus Totstellreflex

14. September 2019

Eine vertieftere Betrachtung des Alltäglichen und doch Unbekannten.
Ausgangslage im Schweizerischen Strafrecht
Während dem die im Mai 2011 verfasste und in der Schweiz am 1. April 2018 in Kraft getretene „Europäische Konvention zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (die sogenannte „Istanbul-Konvention) besagt, dass nicht nur Vergewaltigung sondern jede sexuelle Handlung mit einer anderen Person ohne gegenseitiges Einverständnis als Straftat zu gelten habe, unterscheidet das hoffnungslos veraltete schweizerische Sexualstrafrecht u.a. noch immer „Vergewaltigung“ (Art 190) und „Sexuelle Nötigung“ (Art. 189).

Als „Vergewaltigung“ gilt hier lediglich die „erzwungene vaginale Penetration“ (Art. 190). Voraussetzung für diesen Tatbestand ist „die Anwendung von Nötigungsmitteln“, d.h. von Gewalt, Gewaltandrohungen oder psychischem Druck. Fehlen solche Nötigungen, liegt in der Schweiz keine Vergewaltigung vor, auch wenn das Opfer deutlich „Nein“ gesagt hat. Vom Opfer wird verlangt, dass es sich – für den Täter (!) – erkennbar zur Wehr setzt.

Mit andern Worten:
Vergewaltigung existiert in der schweizerischen Gesetzgebung nur, wenn sich das Opfer wehrt. Daraus folgt: Wer aus Todesangst Vergewaltigung über sich ergehen lässt, wird nicht vergewaltigt.
Angst
Was führt dazu, dass sich jemand nicht wehrt trotz Lebensbedrohung oder lebensbedrohender Angst? Ganz einfach. Wenn’s ums Überleben geht, reagieren wir biologisch und nicht logisch.
Wird bei einer Vergewaltigung Kampf und Flucht verunmöglicht, tritt bei vielen Menschen sofort und autonom die Immobilisation, auch Totstellreflex genannt, ein. Diese Schreckstarre, welche das Überleben sichern sollte, wird unter anderem aktiviert durch Hypoxie (Sauerstoffmangel in den Körpergeweben) und durch das Gefühl zu sterben oder dem Empfinden von intensivem und anhaltendem Stress. Es kommt weiter zu einem Absenken des allgemeinen Grades der Aktivierung des zentralen Nervensystems und zum Absinken der Herz- und Atemfrequenz, zur Muskelentspannung sowie zu Gefühlen von Taubheit und Distanz (Dissoziation). Der Mund trocknet aus, die Stimme scheint zu ersticken, Betroffene sind nicht mehr in der Lage zu sprechen, geschweige denn zu schreien.
Die Immobilisation (Schreckstarre) ist in einer solchen unausweichlichen Situation der Bedrohung eine wichtige Überlebenssicherung. Der Körper schützt sich indem er autonom gewisse Körperfunktionen herunterfährt um Energie zu bewahren.

Und die Gerichtspraxis?
Leider wird nun genau diese, nicht selbstgewählte «Untätigkeit», dem Opfer zum Verhängnis wenn es darum geht, einen Vergewaltiger erfolgreich vor Gericht zu bringen, denn in der Schweiz gilt noch immer: Eine Frau, die sich nicht sichtbar gegen einen Vergewaltiger wehrt, kann gar nicht vergewaltigt worden sein! Oder noch schlimmer für das Opfer: Da sie schwieg, schien sie einverstanden zu sein.

Sozialpolitische Konsequenzen und Forderungen
Um eine weitere Traumatisierung – dieses Mal durch den Gesetzgeber – zu vermeiden, ist es unabdingbar, das Wissen über die Immobilitätsreaktion, die Schockstarre, in unserer Gesellschaft weiter zu verbreiten! Nur so können die Opfer davon befreit werden, sich schuldig und verantwortlich zu fühlen vergewaltigt worden zu sein.
Gerade bei Männern ist eine solche Scham extrem gross, denn in unserer Gesellschaft herrscht immer noch die Meinung, dass einem Mann so etwas nicht passieren kann. Als Frau sind Schuldgefühle Programm, wie die Amnesty International Studie belegt.
Es gilt, das schweizerische Sexualstrafrecht endlich den tatsächlichen Anforderungen anzupassen (auch was die Genderfrage betrifft!). Die von der Schweiz ratifizierte Istanbul-Konvention darf nicht nur Lippenbekenntnis bleiben!

Hilfestellung
Noch ein Wort zu den Folgen einer Vergewaltigung bei Frau, Mann oder Kind. Die Überlebenssicherungsstrategie kann zur Folge haben, dass jemand zwar einen solchen Angriff überlebt, aufgrund der gesicherten Energie aber Traumen entwickelt. Dies gilt übrigens für alle schwerwiegenden und überwältigenden Erfahrungen, welche überraschend, zu schnell und zu heftig eintreten.
Somatic experiencing als Traumatherapieform, gibt dem Körper die Möglichkeit diese gehaltene Energie wieder zu entladen. Dies ist auch dann der Fall wenn keine Erinnerung an das Geschehene mehr vorhanden ist denn, Somatic Experiencing setzt auch dort an wo Worte aufhören.
Autoren: Romy Fischer, Peter Fuhrimann
Quelle: Somatic Experiencing, Peter A. Levine / Polyvagale Theorie, Steven Porges